Kolumne 36

Die Wasser tragen alles...

 

„Raureif nimmt dem Winter alle Erdenschwere. ... Raureif ist die Mozartmusik des Winters, gespielt bei atemloser Stille der Natur.“

 

Karl Foerster, 1874–1970, deutscher Staudenzüchter und Gartenphilosoph

 

 

Dieses Jahr haben wir es punktgenau vor dem ersten Frost geschafft, unsere Agapanthus-Töpfe winterfest zu machen. Viel wärmendes Vlies und Jutebahnen liegen schützend auf den schönen langen wintergrünen Blättern. Letztes Jahr waren wir zu spät, und demzufolge sind 4 Pflanzen erfroren. Sehr schade. Das war uns dieses Jahr eine Lehre. In frostfreien Nächten und Tagen decken wir sie aber wieder auf. Ein ständiges Hin und Her also. Das Gießen der Töpfe sollte man auch nicht im Winter vergessen. Zwar selten, aber nach mehreren Tagen milden Wetters freuen sich Topfpflanzen über geringe Wassergaben.

 

Eine weitere schöne Winterbeschäftigung im Garten ist der Obstbaumschnitt. Bei Temperaturen bis -5 Grad Celsius ist der Schnitt für den Baum kein Problem. Ich werde mir noch dieses Jahr unsere Apfelbaumspaliere vornehmen. Zu meinem Ärger musste ich feststellen, dass einer der Bäume schon wieder Blutläuse hat. Diese nervigen kleinen Schädlinge können bis zu -25 Grad überleben. Also überleben sie … immer. Ein Mittel aus Rapsöl macht ihnen hoffentlich den Garaus.

 

 

 

Wasser hatten wir dieses Jahr gefühlt ausreichend. Lebenserhaltend und kostbar für die Natur und unsere Gärten. Durch die vielen Niederschläge konnten die Böden wieder etwas Wasser speichern. Eine Wohltat nach den letzten heißen Sommern, die alles austrocknen ließen. Unsere Rasenfläche ist zurzeit vollgesaugt wie ein Schwamm. Eine matschige Angelegenheit ihn zu überqueren. Natürlich haben wir auch dieses Jahr vergessen, dem Rasen im November einen letzten Schnitt zu geben. Viele Rasenbesitzer machen das, um der gefürchteten Schneefäule / Schneeschimmel zu entgehen. Die gute Nachricht ist für uns: Wir haben eigentlich eher Moos als Rasen. So bleibt die Gefahr der Schneefäule wegen zu langer Grashalme vor dem ersten Schnee gering.

 

 

„Die Wasser tragen alles:

Leg´ nur dein Glück darauf!

Sie heben´s wie auf Händen

Zum Sternenlicht hinauf.

 

Die Wasser tragen alles:

Leg´ auch dein Leid darauf!

Sie tragens nach dem Meere

In nimmermüden Lauf."

 

Karl Ernst Knodt, 1856–1917, deutscher Dichter

 

 

Alles fließt. Alles bewegt sich beständig und verändert sich. Veränderungen und Loslassen gehören zum Leben. Im lichtarmen Winter fehlen mir die Blühströme des Sommers. Die Kraft der Jahreszeiten macht uns jedes Jahr aufs Neue die Vergänglichkeit im Leben deutlich. Die Bäume lassen ihre Blätter los, Blüten verwelken, und im Garten wird es still. Im Winter steht die Sonne tief am Himmel und wärmt den Boden kaum noch.

 

 

„Jedes Jahr sagen wir, die Natur lege sich zum Winterschlaf hin, aber wir haben diesen Schlaf noch nicht näher betrachtet, oder genauer gesagt, wir haben ihn noch nicht von unten betrachtet... Du verwelkte und trockene Staude, du hast heimlich an Pracht gewonnen, wie fühlst du dich, wenn du so vor Leben strotzt?...

 

Hier unten, unter der Erde vollzieht sich die richtige Arbeit, hier, da und dort wachsen die neuen Stängel, von hierhin bis dorthin, in diesen Abgrenzungen des Novembers, sprüht das Märzleben, hier unter der Erde wird das große Frühlingsprogramm entworfen. Der Frühling soll sein grünes Blätterdach über die Pionierarbeit des Herbstes aufstellen.“

 

Karel Capek, 1890–1938, tschechischer Schriftsteller

 

 

Der Winter steht für Stille und ist Ende und Anfang zugleich. Die Natur hält inne und bereitet sich unterirdisch aufs neue Jahr vor. Wir tun gut daran, im Winter auch unsere Energie langsam nach innen zu führen. Sich zu sammeln und die Heiterkeit aus sich selbst zu schöpfen. Mit dem umgehen, was da ist, auch wenn es über lange Strecken einen Grau-in-grau-Himmel gibt.

 

Wir waren gestern Abend bei lieben Menschen zum Essen eingeladen. Während des Abends kamen wir auf die Lieblingsfarbe einer der Gastgeber zu sprechen: Grau. Passend zu meiner Farbempfindung an vielen Tagen des Winterhimmels in unserer Gegend. Beim Recherchieren über die Wirkung dieser Farbe, stoße ich auf folgende schöne Beschreibung:

 

„Die Farbe Grau wird dir niemals ihre Überzeugungen aufzwingen. Sie respektiert Grenzen und vereint Kontraste. Es bietet ein unübertroffenes Maß an Gelassenheit und kann Energie in Stille verwandeln. ... Grau ist eine alte Seele. Sie hat unzählige Erfahrungen durchlebt und ist daher einsichtig, dass die meisten Sachen im Leben nicht Schwarz oder Weiß, sondern eine Frage der Betrachtungsweise sind.“

 

aus: Farbtonkarte.de

 

 

Die schöne und beindruckende Wesensart des Winters ist für mich: die Reduzierung. Reduzieren wir uns auf das Wesentliche.

 Es handelt sich alles darum, alles zu leben, zu durchleben, manchmal auch zu überleben … eben das pralle Leben nehmen.

 

Innehalten

 

Man muß den Dingen die eigene, ungestörte Entwicklung lassen,

die tief vom Innern kommen muss

und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann.

 

Alles ist austragen und dann gebären….

 

Reifen wie der Baum,

der seine Säfte nicht drängt

und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,

ohne die Angst, dass dahinter kein Frühling kommen könnte.

 

Er kommt doch.

 

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,

die da sind,

als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,

so sorglos still und weit.

 

Man muss Geduld haben gegen das Ungelöste im Herzen

und versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben,

wie verschlossene Stuben und wie Bücher,

die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

 

Es handelt sich darum, alles zu leben.

 

Wenn man die Fragen lebt,

lebt man vielleicht allmählich,

ohne es zu merken eines fremden Tages

in die Antwort hinein."

 

Rainer Maria Rilke, 1875–1926, österreichischer Lyriker

 

 

Herzlichst

Margit Müller-Vorländer